Pandemiebedingte Lernrückstände aufholen: Stellungnahme der Ständigen wissenschaftlichen Kommission der KMK
Die Ständige wissenschaftliche Kommission der KMK (StäwiKo) unter dem Vorsitz von Olaf Köller, Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des IPN, und Felicitas Thiel, Professorin an der Freien Universität Berlin, veröffentlicht heute ihre Stellungnahme zum Thema pandemiebedingte Lernrückstände. Die Empfehlungen lauten: Unterstützungsmaßnahmen fokussieren, verknüpfen und evaluieren.
Die Stellungnahme in Kürze:
Pandemiebedingte Lockdowns haben in allen 16 Ländern zu einer Verkürzung von Lernzeiten geführt. Nationale und internationale Studien weisen darauf hin, dass die daraus resultierenden Lernrückstände und die psycho-sozialen Beeinträchtigungen teilweise erheblich sind. Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien, die bereits vor der Pandemie deutliche Lernrückstände aufwiesen. Es ist davon auszugehen, dass insbesondere Lernrückstände in den Basiskompetenzen über den Bildungsverlauf hinweg kumulieren und sinnvolles Anschlusslernen gefährden. Die ständige wissenschaftliche Kommission begrüßt deshalb die Bereitstellung von Mitteln im Rahmen des Corona-Aufholpakets. Allerdings werden diese Mittel nicht ausreichen, um in den kommenden Jahren alle Lernrückstände zu kompensieren. Für das kommende Schuljahr 2021/22 plädiert die Kommission aus diesem Grund für eine Fokussierung der Mittel auf
- die Gruppen von Lernenden, die einen besonderen Unterstützungsbedarf haben,
- die Phasen im Bildungsverlauf, die für Anschlusslernen besonders kritisch sind,
- die Kompetenzen, die für einen erfolgreichen Bildungsverlauf unverzichtbar sind.
Voraussetzungen für den Erfolg der in den nächsten Wochen und Monaten zu entwickelnden Maßnahmen sind neben der Verwendung geprüfter Diagnose- und Fördermaterialien die grundlegende Qualifizierung des in unterrichtsergänzenden und außerunterrichtlichen Fördermaßnahmen eingesetzten Personals sowie ein systematisches Monitoring bzw. eine Evaluation der Maßnahmen.
Die Kommission betrachtet das Corona-Aufholpaket als Auftakt zur Entwicklung einer längerfristig angelegten Gesamtstrategie zur Reduktion von erheblichen Lernrückständen.
Im Einzelnen empfiehlt die Ständige wissenschaftliche Kommission:
1. Konzentration der Mittel auf besonders betroffene Gruppen von Kinder und Jugendlichen
Leistungsschwache Kinder und Jugendliche, die häufig in sozialräumlichen Kontexten mit geringer Anregungsqualität konzentriert sind und die auf keine oder lediglich geringe familiale Lernunterstützung zurückgreifen können, weisen vermutlich besonders große Lernrückstände auf und sind in besonderer Weise von psycho-sozialen Belastungen betroffen. Ein erhöhter Unterstützungsbedarf besteht auch bei Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf und bei Lernenden, die ein erhöhtes Risiko für Schulabsentismus haben. Diese Gruppen von Kindern und Jugendlichen müssen deshalb prioritär gefördert werden.
Schulen mit besonderem Ressourcenbedarf können auf der Grundlage von Sozialindizes, Daten der amtlichen Schulstatistik und Daten aus Vergleichsarbeiten identifiziert werden. Für die Kitas können Daten zur Zusammensetzung der Gruppen (familiäre Herkunftsmerkmale) und – soweit vorhanden – Daten aus vorschulischen Sprachstandsfeststellungen herangezogen werden.
2. Besondere Förderung an Übergängen und Gestaltung von Anschlüssen
Weil es sich bei Übergängen um besonders sensible Phasen handelt und Bildungsentscheidungen an diesen Gelenkstellen individueller Bildungsbiografien mit der Eröffnung von Lebenschancen verbunden sind, sollten sich Fördermaßnahmen insbesondere auf folgende Phasen konzentrieren:
- Übergang von der Kita in die Grundschule
- Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I
- Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II
- Übergangssystem im berufsbildenden Bereich.
Besonderer Beratungsbedarf besteht auch bei Schülerinnen und Schülern, deren Anschlussoptionen noch offen sind, sowie denen, die keinen Abschluss erreicht haben.
3. Konzentration auf sprachliche und mathematische Basiskompetenzen anstatt Aufholen des Lehrplans
Sprachliche und mathematische Basiskompetenzen haben einen zentralen Stellenwert für das Weiterlernen in allen Fächern. Drei Ansätze zu deren konzentrierter Förderung werden empfohlen:
- eine Erhöhung des Stundenumfangs in Deutsch und Mathematik um jeweils eine Std./Woche in der Grundschule und – bei deutlichen Lernrückständen – die Nutzung von Poolstunden für Deutsch und Mathematik in der Sekundarstufe I
- eine Fokussierung des Unterrichts in Deutsch und Mathematik auf die Kompetenzbereiche, die für das kumulative Lernen entscheidende Bedeutung haben
- unterrichtsergänzende sowie außerunterrichtliche Angebote zur Förderung der Basiskompetenzen, die mit dem Unterricht gut verzahnt sind.
Im vorschulischen Bereich kann auf die in Sprach-Kitas entwickelten Fördermaßnahmen zurückgegriffen werden.
Da Leistungsrückstände häufig mit psycho-sozialen Beeinträchtigungen einhergehen, sollte die Förderung der Basiskompetenzen mit Maßnahmen zur psychosozialen Unterstützung verbunden werden.
4. Gezielte Qualifizierung und Begleitung von zusätzlichem pädagogischem Personal für
Förderung
Zusätzliches Personal, das für unterrichtsergänzende und außerunterrichtliche Maßnahmen rekrutiert wird, muss hinsichtlich
- der fachdidaktischen Grundlagen und fachdidaktischer Kompetenzmodelle,
- der praktischen Nutzung von Diagnose- und Fördertools und
- der Unterstützung von Selbstregulation, sozial-emotionaler Unterstützung und Motivierung
systematisch qualifiziert werden. Es wird empfohlen, zeitnah ein digitales Qualifizierungsangebot – ggf. in der Kooperation mehrerer Länder – auf der Grundlage der einschlägigen fachdidaktischen und psychologischen Rahmenmodelle und geprüfter Diagnose- und Fördermaterialien zu entwickeln.
5. Monitoring und Evaluation der implementierten Maßnahmen
Die Verbesserung der Datenlage zu pandemiebedingten Lernrückständen ist unverzichtbar, um Maßnahmen mittel- und langfristig gezielt auszurichten. Dazu können die nationalen und internationalen Large-scale Assessments genutzt werden. Außerdem sollten insbesondere die unterrichtsergänzenden Fördermaßnahmen evaluiert werden, um begründete Entscheidungen über eine dauerhafte Implementation zu treffen.
Das Monitoring der Maßnahmen und ihrer Effekte sollte auf allen Ebenen verankert werden (Lernende, Klassen, Schulen, Gesamtsystem). Schulen sollten primär Tests einsetzen, die im unteren Leistungsbereich Förderbedarf identifizieren können. Lernstandserhebungen können auf allen Ebenen genutzt werden. Mit Nachdruck wird deshalb eine verpflichtende Durchführung von Vergleichsarbeiten (VERA 3 und 8) in Deutsch, Mathematik und erster Fremdsprache (Vera 8) im Frühjahr 2022 empfohlen.
Mitglieder in der Ständigen wissenschaftlichen Kommission der KMK (StäwiKo)
Vorsitz:
Prof. Dr. Olaf Köller (IPN - Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik)
Prof. Dr. Felicitas Thiel (Freie Universität Berlin)
Prof. Dr. Isabell van Ackeren (Universität Duisburg-Essen)
Prof. Dr. Yvonne Anders (Universität Bamberg)
Prof. Dr. Claudia Diehl (Universität Konstanz)
Prof. Dr. Thilo Kleickmann (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)
Prof. Dr. Kai Maaz (DIPF - Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Information)
Prof. Dr. Doris Lewalter (Technischen Universität München)
Prof. Dr. Birgit Lütje-Klose (Universität Bielefeld)
Prof. Dr. Harm Kuper (FU Berlin)
Prof. Dr. Susanne Prediger (IPN und Technische Universität Dortmund)
Prof. Dr. Susan Seeber (Georg-August-Universität Göttingen)